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IM
Februar 2003 besuchte eine Delegation des Internationalen Währungsfonds
(IWF) Bolivien und drängte die Regierung Sánchez
de Lozada zu einer kräftigen Erhöhung der Lohnsteuer,
um die Lücke im Staatshaushalt auszugleichen, die damals
8,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) entsprach. Es kam
zu einem spontanen Volksaufstand, Teile der Polizei schlossen
sich an und kämpften gegen die Armee. Vier Soldaten, dreizehn
Polizisten und neunzehn Zivilisten wurden getötet, der Präsident
floh für Stunden aus dem Regierungspalast, und die IWF-Delegation
saß in einer Suite ihres Fünfsternehotels fest und
musste tatenlos zusehen, wie ihre Pläne auf dem Müllhaufen
landeten.
Sechs
Monate später wollte die Unternehmensgruppe Pacific LNG
(bestehend aus der spanischen Repsol YPF, British Energy und
Panamerican Energy) durchsetzen, dass bolivianisches Erdgas nach
Mexiko und Kalifornien exportiert werden darf. Sie konnte dabei
auf die Unterstützung einer Regierung zählen, der wenig
daran gelegen war, die Reichtümer des Landes zu dessen eigenen
Gunsten zu nutzen - es kam zum so genannten Gaskrieg(1). Zwei
Wochen dauernde Proteste und passiver Widerstand mündeten
in eine Erhebung der indigenen Landbevölkerung. Trotz der
gewaltsamen Unterdrückung und des Eingreifens der Armee
- es gab 67 Tote und über 400 Verletzte - sah sich Präsident
Sánchez de Lozada zum Rücktritt gezwungen und floh
in die Vereinigten Staaten.
Am
11. Januar 2005 war auf dem Altiplano, dem bolivianischen Hochland,
wieder der alte Schlachtruf zu hören: "El Alto de pie,
nunca de rodillas" (etwa: El Alto steht, geht niemals auf
die Knie). Nach drei Tagen Generalstreik kündigte die Regierung
dem französischen Wassermulti Suez Lyonnaise des Eaux den
Vertrag. Das Unternehmen betrieb bis dahin die Trink- und Abwasserversorgung
in der Hauptstadt La Paz und der riesigen Hochlandvorstadt El
Alto, und zwar über ein Subunternehmen namens Aguas del
Illimani S. A., an dem auch die Weltbank über ihren privatwirtschaftlichen
Arm, die Internationale Finanz-Corporation (IFC), zu 8 Prozent
beteiligt ist.
Die
Suez Lyonnaise war 1997 im Zuge der von der Regierung Sánchez
de Lozada betriebenen Privatisierungen in Bolivien eingestiegen.
Der Markt war eigentlich nicht attraktiv genug, aber die Weltbank
tat sich mit dem französischen Konzern zusammen, der schließlich
die staatliche Samapa ablöste. Die Veränderungen machten
sich rasch bemerkbar: In einigen dezentralen Gebieten stiegen
die Wassergebühren bis auf das Sechsfache, und die Preise
für einen Wasseranschluss verdoppelten sich. Das Gehalt
für den neuen Vorstand stieg ebenfalls - von 12 500 auf
65 000 Bolivianos (rund 10 000 Dollar). Auch machten die französischen
Beschäftigten von Aguas del Illimani keinen Hehl aus ihrem
Rassismus und ihrer Verachtung für die Hochlandbewohner,
die in ihren Augen "die schlimmsten Kunden und Verbraucher
der Welt" waren.(2)
Ende
2004 wurde bekannt, dass die Suez Lyonnaise mit der gegenwärtigen
Regierung Carlos Mesa eine Reihe von Vergünstigungen ausgehandelt
hatte, die dem Konzern eine Rendite von 12 Prozent sicherten
- zu Lasten der als unrentabel geltenden abgelegenen und ärmeren
Gebiete im Altiplano. Das für 2004 anvisierte Ziel von 15
000 Anschlüssen wurde kurzerhand auf null zurückgefahren.
Daraufhin formierte sich der Widerstand der Sozialen Bewegung
im Altiplano gegen die Suez Lyonnaise. Am 10. Januar erklärte
schließlich der stellvertretende Minister für den öffentlichen
Dienst und öffentliche Bauprojekte, José Barragán: "Etwa
40 000 Haushalte (in El Alto) haben keinen Zugang zu Trinkwasser;
das Abwasserproblem ist noch gravierender. Der Vertrag in seiner
jetzigen Form sieht vor, alle Hochlandbewohner an die Wasserversorgung
anzuschließen. Wir verlangen von Aguas del Illimani, dass
sie diesen Vertrag einhalten. Wenn sie den Menschen keine Versorgung
anbieten, weil diese arm sind, nicht bezahlen, als Kunden unrentabel
sind und so weiter, dann müssen wir uns einen anderen Betreiber
suchen."
Unter
dem Druck von mehr als 600 Stadtteilorganisationen aus El Alto
gab die Regierung nach und erklärte die "Aufhebung
des Konzessionsvertrags mit Aguas del Illimani". Bolivien
hatte den Wassermulti mit legalen Mitteln vor die Tür gesetzt.
Dasselbe Schicksal war im April 2000 dem US-Konzern Bechtel zuteil
geworden, der ebenfalls für die Trink- und Abwasserversorgung
in El Alto und La Paz zuständig gewesen war.
Bolivien
ist nach Haiti das zweitärmste Land Lateinamerikas, hat
acht Millionen Einwohner und Auslandsschulden von 5,5 Milliarden
Dollar, zu deren Tilgung 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts
aufgewendet werden müssen. 1985 erließ Präsident
Víctor Paz Estenssoro vom Movimiento Nacionalista Revolucionario
(MNR) ein Dekret ("Decreto supremo 21060"), das den
Weg für die liberale Marktwirtschaft ebnete. Es folgten
Rationalisierungen in den Staatsbetrieben, die Entlassung von
rund 25 000 Bergleuten und der Zusammenbruch der jungen inländischen
Industrie, die der Konkurrenz durch die Importprodukte nicht
gewachsen war.
In
den 1990er-Jahren wurden die Bodenschätze - in erster Linie
Erdöl und Gas - und die
Infrastrukturdienstleistungen privatisiert. Diese Entwicklung war von einer
weitgehenden Lähmung und Auflösung der Sozialen Bewegung begleitet.
Tatsächlich war ein Teil der Linken, zusammengeschlossen im Movimiento
de Izquierda Revolucionario (Linke Revolutionäre Bewegung, MIR) und dem
Movimiento Bolivia Libre (Bewegung Freies Bolivien, MBL) - beides Mittelschichtsparteien
mit einer gewissen Volksnähe -, aktiv am Prozess der Liberalisierung von
Politik und Wirtschaft des Landes beteiligt.
Eine
radikale politische Wende zeichnete sich seit April 2000 ab,
als die Coordinadora del Agua de Cochabamba, ein Zusammenschluss
von Kokabauern, Landwirten, Arbeitern und Studenten, den Bechtel-Konzern
in die Knie zwang. "Eine soziale Bewegung in einem der ärmsten
Länder des Kontinents hat der Globalisierung ihre erste
große Niederlage zugefügt", sagte der Chef der
Coordinadora, Oscar Olivera.
Eine
neue indigene und bäuerliche Linke machte sich nachdrücklich
bemerkbar. Sie hatte nichts von der lebensfremden, doktrinären
Linken realsozialistischer Prägung und stützte sich
auf eine lange Geschichte indigener Revolten und ein eigenes
Repertoire kollektiver Aktionen: Hungerstreiks, Straßenblockaden,
Besetzung von Städten, schließlich Aufstände.
Im
Juni 2002 wurde der Movimiento al Socialismo (Bewegung zum Sozialismus,
MAS) unter dem Anführer der Kokabauern, Evo Morales(3),
mit 20,5 Prozent der Stimmen zweitstärkste politische Kraft
- gegenüber 22 Prozent für den Movimiento Nacionalista
Revolucionario (Nationalistische Revolutionäre Bewegung,
MNR), die Gonzalo Sánchez de Lozada zum Präsidenten
machten.
Auf
parlamentarischer Ebene tat sich Entscheidendes: MAS und Movimiento
Indígena Pachacuti (Indigene Bewegung Pachacuti, MIP)
erhielten zusammen 41 Sitze und setzten durch, dass in den parlamentarischen
Debatten die indigenen Sprachen (Aymará, Quechua und Guaraní)
gesprochen werden durften. Das war ein erstes - zumindest symbolisches
- Anzeichen für die nicht mehr unangefochtene Diskurshoheit
der herrschenden Eliten.
Die
Soziale Bewegung, allen voran die MAS, hätte nach dem Sturz
Sánchez de Lozadas das Machtvakuum durchaus für sich
nutzen können, zog es jedoch vor, sich an die Regeln der
demokratischen Legitimität zu halten und eine verfassungskonforme
Nachfolge zu unterstützen. So übernahm der bisherige
Vizepräsident Carlos Mesa das Präsidentenamt.
Tatsächlich
hat die Soziale Bewegung nicht vor, Veränderungen dadurch
herbeizuführen, dass sie einen Präsidenten durch einen
anderen ersetzen lässt - wie es in Argentinien oder Ecuador
der Fall war. Sie hat auch nicht vor, an die Macht zu kommen,
um eine Diktatur des Proletariats zu errichten, wie es die Linke
in den Siebzigerjahren beabsichtigte. Ihr geht es vielmehr darum,
die neoliberale Glaubenslehre zu revidieren, die Bolivien in
zwanzig Jahren keinen sichtbaren Nutzen gebracht hat.
Die
Wut der Sozialen Bewegung auf das neoliberale Modell erklärt
sich aus den makroökonomischen Zahlen. Die zwanzig Jahre
Neoliberalismus haben lediglich den unternehmerischen und politischen
Eliten sowie dem ausländischen Investitionskapital genützt,
die inländische Wirtschaft dagegen stagnierte und schrumpfte
in einigen Bereichen gar. Als Beispiel mag das jährliche
Pro-Kopf-Einkommen in Bolivien dienen: 1980 lag es bei 940 Dollar,
heute, nach 25 Jahren der rasanten Kommerzialisierung lebensnotwendiger
Güter, beläuft es sich auf 960 Dollar. Das Amt für
Statistik in Bolivien (INE) gibt an, dass 58,6 Prozent der Bevölkerung
unter der Armutsgrenze leben; auf dem Land erreicht dieser Anteil
90 Prozent.
Nach
dem Human Development Report 2003 des United Nations Development
Programme (UNDP) leben die Bewohner ländlicher Regionen
von weniger als einem Boliviano täglich (das entspricht
10 US-Cent).(4) Da 3,8 der 8 Millionen Einwohner Boliviens Bauern
sind, ist die hohe Kampfbereitschaft der vorwiegend aus bäuerlichen
und indigenen Vereinigungen und Gewerkschaften bestehenden Sozialen
Bewegung nur allzu begreiflich.
Mit
der Amtsübernahme durch Carlos Mesa erhielt diese die Zusage
für ein Dreipunkteprogramm: Über die Regelung der Erdgasexporte
soll per Volksabstimmung entschieden werden; ein neues Gesetz
soll die derzeit in ausländischem Besitz befindlichen Bodenschätze
wieder zu nationalem Eigentum erklären und die Steuern der
Konzerne, die Bodenschätze ausbeuten, um 18 bis 50 Prozent
erhöhen; und eine verfassunggebende Versammlung soll einen
neuen Gesellschaftsvertrag aushandeln.
Im
Jahr 2004 geriet die Soziale Bewegung in eine Phase der Stagnation.
Ihre Streikaufrufe wurden kaum befolgt, das Engagement der indigenen
Bevölkerung ließ nach, und bei den Kommunalwahlen
im Dezember bekamen MAS und MIP weniger Stimmen als 2002. Zu
tun hat dies sicherlich mit den Fraktionskämpfen innerhalb
beider Parteien und mit dem Kampf um die Führung der Sozialen
Bewegung. So wurde Evo Morales, der Parteichef der MAS mit guten
Chancen für einen Sieg bei den Wahlen 2007, aus dem traditionsreichen
Dachverband der Gewerkschaften (Central Obrera Boliviana, COB)
ausgeschlossen und von Felipe Quispe, dem Chef der Landarbeitergewerkschaft
(Central Sindical de Trabajadores Campesinos de Bolivia, CSUTCB),
zum "Feind der Sozialen Bewegung" erklärt.
Außerdem
haben sich im Osten Boliviens, insbesondere in der Provinz Santa
Cruz, die konservativen Kräfte aus Unternehmertum und Oligarchie
zusammengeschlossen, die eine föderale Struktur des Landes
anstreben - das heißt: eine teilweise Autonomie für
das reiche Tiefland des Ostens. Sie widersetzen sich vehement
der Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung und fordern "Rechtssicherheit",
damit die Ausbeutung der fossilen Energieträger durch die
internationalen Ölkonzerne weiterhin unter den gegenwärtigen
Bedingungen vonstatten gehen kann. Diese konservative Bewegung
hat in den letzten Wochen an Boden gewonnen. Mit einem Generalstreik
und einer Massenveranstaltung hat sie am 27. Januar erreicht,
dass Präsident Mesa per Dekret für den kommenden Juni
die Wahl von Präfekten - vergleichbar etwa mit Provinzgouverneuren
- anordnete. Ihre Einsetzung bedeutet einen klaren Schritt in
Richtung Autonomie der reichsten Region des Landes. Diese Maßnahme
schiebt sich vor die versprochene Einsetzung einer Verfassungsversammlung
und zielt darauf, der Sozialen Bewegung ihre Führungsrolle
streitig zu machen.
Gleichwohl "kann
sich diese verfahrene Situation positiv auswirken", sagt
Senator Filemón Escóbar von einer Fraktion innerhalb
des MAS. "Die Soziale Bewegung kann sie als Signal sehen,
ihre Kräfte zu bündeln, ihre Stoßrichtung zu überprüfen
und das Hauptziel nicht aus den Augen zu verlieren: die Revision
des neoliberalen Modells, auf dass eine gerechtere demokratische
Gesellschaft ohne die heute herrschende Ungleichheit entsteht.
Wir müssen die Reihen schließen, damit die verfassunggebende
Versammlung Wirklichkeit wird."
Tatsächlich
geschieht das bereits. Evo Morales und die MAS wollen weiterhin
die Führungsrolle innerhalb der Opposition für sich
beanspruchen und die Basis für die Einberufung der verfassunggebenden
Versammlung mobilisieren. Morales arbeitet so schon heute an
den Wahlen von 2007, die mit der Einsetzung einer legitimen,
demokratisch gewählten Regierung der neuen Linken enden
könnten. Die Vertreibung des Suez-Lyonnaise-Konzerns hat
es gezeigt: Trotz der Versuche konservativer Kreise, die politische
Macht zurückzugewinnen, ist der Aufstieg der neuen Linken
nicht am Ende.
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