"Unser Wasser- Kassel"
Initiative Bürgerbegehren gegen die Privatisierung von Wasser in der Region

HNA 27.9..2006


Landräte in Venedig: EAM zahlt
Fahrt mit Frauen und Kulturprogramm
Staatsanwalt ermittelt wegen Untreueverdacht

von Frank Thonicke

 

Kassel / Göttingen. Spitzenpolitiker der Region sind ins Visier der Justiz geraten. Die Staatsanwaltschaft Kassel ermittelt gegen aktive und ehemalige Landräte sowie einen Oberbürgermeister wegen Untreue und Vorteilsnahme im Amt. Sie sollen im Jahr 2001 an einer von der damaligen Elektrizitäts-Aktiengesellschaft Mitteldeutschland (EAM) bezahlten Vergnügungsreise nach Venedig teilgenommen haben.

Die 57 000 Mark teure Reise war offiziell als Informationsbesuch einer Trockenstabilat-Anlage ausgegeben worden. Die Politiker, damals kommunale Aufsichtsräte der EAM, seien alle in weiblicher Begleitung gewesen, erklärt die Kasseler Staatsanwaltschaft.

Im Einzelnen wird gegen folgende Politiker ermittelt: Udo Schlitzberger (SPD/ Landrat Landkreis Kassel), Jürgen Hasheider (SPD/ früherer Landrat Schwalm-Eder-Kreis), Dieter Brosey (SPD/ ehemaliger Landrat Werra-Meißner-Kreis), Roland Hühn (SPD/ ehemaliger Landrat Hersfeld-Rothenburg), Heinrich Rehbein (SPD/ früherer Landrat Landkreis Göttingen), Jürgen Danielowski (CDU/ Oberbürgermeister in Göttingen) und Ralf-Reiner Wiese (SPD/ früherer Oberkreisdirektor Northeim). Insgesamt wird gegen elf Politiker ermittelt. Betroffene sind auch die Landräte in Lahn-Dill und Marburg-Biedenkopf, Karl Ihmels (SPD) und Robert Fischbach (CDU).

Sie alle waren dabei, als die EAM vom 30. September bis 3. Oktober 2001 nach Venedig eingeladen hatte. Dort wollte man eine Trockenstabilatanlage besichtigen, an der die EAM beteiligt war. Nach Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft hat der Anlagenbesuch während der dreitägigen Reise gerade mal eineinhalb Stunden gedauert.

Teilnehmer berichteten, dass es ansonsten Essen mit Venedigs Bürgermeister und seinem Referenten sowie ein Kulturprogramm gegeben hat. Oberstaatsanwalt Hans-Manfred Jung: "Die Reise hatte wohl mehr privaten Charakter." Unklar ist noch, ob die EAM auch für die teilnehmenden Ehefrauen der Politiker zahlte. Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat wussten von der Venedigtour offenbar nichts.

Die eingeladenen Politiker kontrollierten als Aufsichtsräte die EAM. Es wird wegen Untreue (bis zu fünf Jahren Haft) ermittelt, weil sie als Mitglieder eines Kontrollorgans darauf hätten achten müssen, dass das Unternehmen kein Geld verschwendet. Stattdessen seien sie in den Genuss dieser Geldverschwendung gekommen, so die Staatsanwaltschaft. Die E.ON Mitte AG, die EAM übernommen hat, wollte sich gestern nicht äußern. Das könne man nicht, da die Vorwürfe aus der Zeit vor der Übernahme datieren. Dem heutigen Vorstand seien die genauen Umstände nicht bekannt.

Kommentar
Fast zu erwarten
von Ines Pohl

 

Es gibt Dinge, die sind schlimm, weil sie uns so wenig überrachen. Dazu gehört auch die jetzt bekannt gewordene Kungelei zwischen der EAM und den Landräten aus unserer Region. Die übrigens 2001, zur Zeit ihrer Vergnügungsreise nach Venedig auf Kosten der EAM, noch dazu verpflichtet waren, zu überprüfen, dass der Energieversorger nicht kungelt.

Die verhältnismäßig geringe Summe steht dabei nicht im Mittelpunkt. Es geht vielmehr um das Prinzip. Es geht darum, dass Politiker wieder einmal das Vertrauen, das ihnen ihre Wähler mit ihren Stimmen schenkten, missbraucht haben. Es geht um den Schaden, der weit über einen persönlichen Imageverlust hinausweist.

Viel wird in diesen Tagen über den Zusammenhang zwischen Ehrlichkeit, Politikverdrossenheit und Gefährdung der Demokratie gesprochen. Unsere Landräte haben gezeigt, dass auch sie sich gerne für den persönlichen Vorteil und damit gegen ihre Verantwortung entscheiden. Und das Schlimmste daran ist: Es ist keine wirkliche Überraschung.

 

Buntes Programm statt Arbeitsbesuch
 

KASSEL. Vor wenigen Tagen bekamen etliche Politiker in der Region unliebsame Post. Auch Dr. Udo Schlitzberger (SPD), Landrat des Landkreises Kassel. Die Staatsanwaltschaft informierte am 20. September, dass gegen ihn ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde. Der Tatvorwurf wiegt schwer: Vorteilsnahme im Amt und Untreue.

Es geht um eine Reise nach Venedig im Jahr 2001, zu der die damalige Elektrizitäts Aktiengesellschaft Mitteldeutschland (EAM) eingeladen hatte. Dort sollten sich die Aufsichtsratsmitglieder der EAM eine Trockenstabilatanlage ansehen. Das tat man auch - eineinhalb Stunden lang. Die Reise, bei der die Politiker von den Ehefrauen begleitet wurden, dauerte drei Tage.
Gestern nun war dieser Ausflug in die Lagunenstadt Thema im Kasseler Landratsamt. Denn wir wollten wissen: Was taten Schlitzberger und Kollegen wirklich in Venedig? Wer war mit? Wer zahlte für die Frauen? Wie sah das Kulturprogramm aus?

Erklärung nach Stunden

Nach einigen Stunden hatte sich der Landrat zu einer Erklärung durchgerungen. Es habe Fachgespräche in Italien gegeben und einen Empfang im Rathaus. Der letzte Satz der Stellungnahme: "Landrat Dr. Schlitzberger geht davon aus, dass die Organisation und die Abrechnung der Informationsreise vom einladenden Vorstand der EAM ordnungsgemäß nach Recht und Gesetz abgewickelt wurden."

Von den betroffenen Politikern, die gestern zu erreichen waren, gaben sich auch andere wortkarg. Dieter Brosey (SPD), ehemaliger Landrat des Werra-Meißner-Kreises, bestätigte seine Teilnahme an der Reise, wollte aber keine weitere Stellungnahme abgeben.

"Keine Lustreise"

Der frühere Landrat des Schwalm-Eder-Kreises, Jürgen Hasheider, sagte, es habe sich keineswegs um eine Lustreise gehandelt. Als kommunale Aktionäre und Aufsichtsratsmitglieder der EAM habe man seinerzeit Interesse bekundet, sich die Trockenstabilatsanlage der Firma Herhof-Umwelttechnik im venezianischen Vorort Fusina anzuschauen. Hintergrund seien die Pläne der inzwischen Pleite gegangenen Firma Herhof gewesen, auch im Kreis Hersfeld-Rotenburg eine solche Anlage zu bauen.
Laut Hasheider standen neben der Besichtigung des Werkes Gespräche mit Kommunalpolitikern und Firmen auf dem Programm – unter anderem auch während eines mehrstündigen Besuchs von Venedig. Hasheider betonte, dass die Ehefrauen ihren Anteil an den Reisekosten selbst getragen hätten.

"Keine Kenntnis"

Der ehemalige Göttinger Landrat Heinrich Rehbein (SPD) wollte die Ermittlungen gegen ihn nicht kommentieren. Offiziell habe er von dem Verfahren noch keine Kenntnis, sagte er. Auch der ehemalige Northeimer Oberkreisdirektor Ralf-Reiner Wiese, der Ende März 2001 sein Amt niedergelegt hat, aber noch bis zum Jahresende 2001 im Aufsichtsrat des Energieversorgers saß, war zu einer Stellungnahme nicht bereit.

Der Ende Oktober aus dem Amt scheidende Göttinger Oberbürgermeister Jürgen Danielowski (CDU) hat sich in einer kurzen Erklärung der Darstellung des Wetzlarer Landrats Karl Ihmels angeschlossen, dass es bei der Reise um die Besichtigung einer Trockenstabilatsanlage in der Nähe von Venedig gegangen sei. Es sei für ihn selbstverständlich gewesen, sich kundig zu machen, in welche Umwelttechnik die EAM sich finanziell so stark engagiere. Das touristische Programm am zweiten Tag der Reise sei nach seiner Erinnerung nicht aufwändig gewesen.

Der Oberbürgermeister, der bis zu seinem Amtsantritt im Jahr 2000 Oberstaatsanwalt im thüringischen Mühlhausen war, räumte aber ein, dass man die Teilnahme daran aus heutiger Sicht problematisieren könne. (tho/wet/kle/ows)

Hintergrund
Arbeitnehmer wussten nichts

 

Von der Reise nach Venedig hätten die Arbeitnehmervertreter nichts gewusst. Dementsprechend sei auch keiner dabei gewesen, sagt der stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende Klaus-Ulrich Gielsdorf aus Schwalmstadt. Gielsdorf ist Vorsitzender des Gesamtbetriebsrats von E.ON-Mitte und saß schon 2001, als die Reise stattfand, im EAM-Aufsichtsrat.

Hat es weitere, ähnliche Reisen gegeben? Das wisse er nicht, sagt Gielsdorf. Die Arbeitnehmer würden zu solchen Reisen nicht eingeladen. Darauf lege er aber auch keine Wert. Bei etwaigen Einladungen reagiere man defensiv. Gielsdorf: "Es zeigt sich, dass ich damit Techt habe." (tho)